Interview
30 Jahre ZEW: Professor Heiko Kleve über die Etablierung Systemischer Aufstellungen an der Hochschule

Seit 2008 ist die Werkstatt für Systemische Aufstellungen ein fester Bestandteil des ZEW-Weiterbildungsangebots – initiiert von Professor Dr. Heiko Kleve. Zum 30-jährigen Jubiläum der ZEW gibt er den Auftakt zu unserer Interviewreihe und spricht über die Anfänge der Methode an der Hochschule, ihre wissenschaftliche Fundierung und ihre wachsende Bedeutung für Beratung, Coaching und Organisationsentwicklung. Erfahren Sie, warum Systemische Aufstellungen heute gefragter sind denn je und welche Zukunftstrends die Weiterbildung prägen werden.
JS: 2008 wurde die Aufstellungswerkstatt von Ihnen ins Leben gerufen – ein Angebot, das wir dieses Jahr bereits zum 17. Mal mit großem Erfolg anbieten. Wie ist damals die Idee dazu entstanden?
HK: Das Systemische Aufstellen habe ich bereits in den 1990er Jahren während meines eigenen Studiums kennengelernt. Seit dieser Zeit habe ich immer wieder erfahren, sowohl an eigenen Themen als auch in der Beratung, in der Supervision und im Coaching, welche kraftvollen Wirkungen Aufstellungen entfalten können. Gerade in einer sehr sprachlich orientierten Arbeit ist es äußerst sinnvoll, einmal von der rein verbalen Orientierung abzusehen und darauf zu achten, welche körperlichen Wahrnehmungen im Raum entstehen und wie diese genutzt werden können, um ein aktuelles Anliegen bzw. eine Herausforderung mit frischen Augen zu betrachten. Genau das wird in Aufstellungen möglich. Ich habe dann angefangen, auch in meinen Seminaren an der Hochschule mit diesem Format zu arbeiten. Die Studierenden haben mir daraufhin viele positive Rückmeldungen dazu gegeben. So ist die Idee entstanden, eine Aufstellungswerkstatt für Studierende sowie für Praktikerinnen und Praktiker an der Hochschule anzubieten.
JS: Aufstellungen waren zu dieser Zeit im Kontext der Hochschulen ja noch lange nicht so akzeptiert wie heute. Wie war der erste Zulauf an Teilnehmenden? Gab es Widerstände von Seiten der Hochschule dieser als „esoterisch“ verschrienen Methode gegenüber? Wie war die Reaktion der Kolleg*innen?
HK: Ich habe wenig Widerstand erlebt, sondern eher großes Interesse und Unterstützung. Denn mein Ansatz war immer einer, der wissenschaftlich fundiert ist. So habe ich die Arbeiten von Prof. Dr. Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer aufgegriffen, zwei Pionier*innen der Aufstellungsarbeit, die dieses Konzept in Form der „Systemischen Strukturaufstellungen“ sowohl erkenntnis- als auch praxistheoretisch fundiert haben. Ich selbst habe ebenfalls einen wissenschaftlichen Rahmen entwickelt, der deutlich macht, wie das Systemische Aufstellen kritisch-rational beschrieben und erklärt werden kann, nämlich als eine Integration von konstruktivistischer Sinnkreation, struktureller Raumwahrnehmung und körperlicher Resonanz, wie Empathie. Bereits seit den 1990er Jahren gibt es universitäre Forschung dazu. Eine der ersten Doktorarbeiten ist beispielsweise Mitte der 2000er Jahre an der Universität Witten/Herdecke von Peter Schlötter geschrieben worden: „Vertraute Sprache und ihre Entdeckung“. In dieser Arbeit wird insbesondere die strukturelle Raumwahrnehmung durch zahlreiche Experimente geprüft und validiert.
JS: Systemische Aufstellungen sind mit dem Zertifikatskurs und der Werkstatt inzwischen ein sehr geschätztes Weiterbildungsangebot an der ZEW. Seit Anbeginn sind beide Angebote regelmäßig ausgebucht: Worauf führen Sie dieses große Interesse an systemischen Aufstellungen zurück?
HK: Systemische Aufstellungen sind eine kraftvolle Methode für alle Kontexte, in denen es darum geht, Systeme zu reflektieren und hinsichtlich von Veränderungsmöglichkeiten zu betrachten. Und das gilt für psychische Systeme genauso wie für Sozialsysteme. Wir können also ganz persönliche Anliegen in der Therapie und dem Coaching sowie Organisations-, Team-und Gesellschaftsthemen mit Aufstellungen bearbeiten. Der Einsatz dieser Methode ist also äußerst breit. Das haben inzwischen sehr viele Menschen erkannt. Gerade in einer Welt, in der wir sehr viel denken und sprechen, ist es zumeist sehr hilfreich und eröffnet neue Perspektive, wenn wir unsere Wahrnehmungen ganzheitlicher nutzen, wenn wir darauf achten, was uns die körperliche Wahrnehmung im Raum vermittelt. Denn wir Menschen sind – zumindest von unserem Potentialen her – nämlich äußerst sensible Wesen mit einer enormen Wahrnehmungsfähigkeit, auf welche wir in Aufstellungen in einer Weise zugreifen können, wie dies im Alltag nur selten geschieht. Und wenn wir diese Wahrnehmungen mit der kollektiven Intelligenz einer Gruppe verbinden, ist dies wohl eine der stärksten Methoden psychosozialen Arbeitens überhaupt. Dies haben inzwischen sehr viele Leute erkannt.
JS: Die ZEW bietet nun seit 30 Jahren praxisorientierte und zertifizierte Weiterbildungsmöglichkeiten. Was würden Sie von der ZEW in den nächsten Jahren erhoffen? Wo sehen Sie aktuell wichtige Trends, die auch im Bereich des lebenslangen Lernens aufgegriffen werden sollten? Was wünschen Sie der ZEW?
HK: Die ZEW war immer am sprichwörtlichen Puls der Zeit. Ich wünsche Ihnen, dass Sie genau diese Sensibilität für aktuelle Themen behalten. Meiner Ansicht nach wird es in Zukunft sehr stark darum gehen, dass wir die Arbeitswelt im Zuge der sich rasant entwickelnden Künstlichen Intelligenz neu formatieren. Die Frage wird sein, welche Rolle die menschliche Intelligenz noch spielt, wenn nahezu alles durch künstliche Intelligenz rationalisiert werden kann. Genau an dieser Stelle sehe ich auch das zukünftige Potenzial von Systemischen Aufstellungen. Diese erweitern nämlich auch das klassische Konzept der Intelligenz, die ja zumeist als kognitiv-rationale Fähigkeit gedacht wird, auch hinsichtlich von KI. Die menschliche Intelligenz ist aber viel umfangreicher. Es geht auch um Emotionalität und zwischenmenschliche, ja soziale Resonanz und die Intelligenz, die daraus erwächst. Ich denke, dass es zukünftig darum gehen wird, die Menschen bei der Entwicklung von Kompetenzen zu unterstützen, die die Integration und Nutzung dieser ganzheitlichen Fähigkeiten in der Lebens- und Arbeitswelt ermöglichen. Ich bin gespannt und schaue optimistisch auf die Angebote der ZEW, die dazu in den nächsten Jahren auf den Markt kommen.
Das Interview führte Julia Sammler.