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Reallabor „Gender im Kaukasus“ auf Exkursion in Georgien
Seit dem Wintersemester 2022/23 gehen Studierende der Sozialen Arbeit im Reallabor „Gender im Kaukasus“ der Frage nach, welchen Beitrag die Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession bei der Stärkung von Frauen, der Gleichstellung der Geschlechter und der Akzeptanz von LGBTIQ+ in stark patriarchalen Gesellschaften leisten kann. Nun schildern sie ihre Eindrücke.
Gemeinsam mit Expert*innen aus Deutschland, der Ukraine, Russland, Usbekistan und den südkaukasischen Ländern Armenien, Aserbaidschan und Georgien beschäftigen sich die Studierenden in Arbeitsgruppen mit gewohnheitsrechtlichen Traditionen, die die Lebensbedingungen von Frauen im Kaukasus wesentlich determinieren. Dazu zählen die Ursachen und Folgen der weit verbreiteten häuslichen Gewalt, wirkmächtige Geschlechterrollen und -normen im Islam und Christentum und die auch daraus resultierende prekäre soziale Lage von LGBTIQ+, hegemoniale Maskulinität und weiteren Themen. Ergänzt wurden die Onlineseminare im November 2022 von einem gemeinsamen Blockseminar mit dem aserbaidschanischen Wissenschaftler Ramil Zamanov und Erasmusstudierenden an der Karlsuniversität Prag sowie dem Besuch der kaukasischen Teilnehmer*innen im Dezember in Potsdam. Im März landete das Reallabor dann zum Gegenbesuch in der georgischen Hauptstadt Tiflis – just zum Zeitpunkt heftiger zivilgesellschaftlicher Proteste. Hintergrund war das Vorhaben des georgischen Parlaments, ein „Gesetz gegen ausländische Agenten“ zu verabschieden, das sein Vorbild in Russland hat. Damit soll die unabhängige Zivilgesellschaft in Georgien kontrolliert und ihre Handlungsoptionen massiv eingeschränkt werden.
Für die Studierenden waren die Erfahrungen während dieser Exkursion von besonderer Intensität:
„Es scheint, als wären wir die Reise zu einem Zeitpunkt angetreten, welcher konfliktgeladener kaum sein konnte. Eine tägliche Anti – LGBTQI+ Demonstration 50 Meter neben unserer Unterkunft im Zentrum der Hauptstadt gab uns bereits am ersten Abend eine Idee von der großen Kontroverse, wenn nicht gar Ablehnung innerhalb der georgischen Gesellschaft bezüglich queerer Diversity, Anerkennung und Akzeptanz. Doch davon sollte man sich in Tiflis nicht täuschen lassen. Im Laufe der Woche entdeckten wir immer mehr queerfreundliche Orte, wie Bars, Clubs oder eben NGOs, welche stark darauf bedacht sind, denjenigen einen Ort zur Verfügung zu stellen, welche nicht das heteronormative System reproduzieren.
Unser Terminkalender wurde von einem bevorstehenden Gesetzesbeschluss durcheinandergebracht, welcher NGOs als vom Ausland finanzierte Agenten identifizieren sollte. Die Auswirkungen dieses Gesetzes waren nicht nur für eben jene betroffene gemeinnützige Organisationen fatal, denn sie bedeuteten eine politische Annäherung Georgiens in Richtung Russland. Folglich wurden wir Zeugen von einer mehrtägigen Demonstration, gar Rebellion, der ganzen Stadt gegen die georgische Regierung. Ich empfand es als unglaublich beeindruckend, wie viel Organisationstalent, Durchhaltevermögen und Zielstrebigkeit sich innerhalb kürzester Zeit in der ganzen Stadt mobilisierte. Es sei anzumerken, dass sich hier unter anderem auch für LGBTQI+ freundliche NGOs, feministische NGOS, etc. eingesetzt wurde.
Glücklicherweise kamen wir schließlich doch noch in den Austausch mit einigen Organisationen, welche sich für Frauenrechte und die der LGBTQI+ Community einsetzen. Ich muss gestehen, dass ich überrascht war, wie facettenreich und komplex sich deren Arbeit gestaltete und welchen Einfluss und Beitrag sie somit in der Gesellschaft leisten. Ich unterschätze bisweilen den Einfluss solcher Tätigkeiten, vor allem auf politischer Ebene. Ebenfalls empfand ich den Austausch über sozialarbeiterische Praktiken als sehr hilfreich und bereichernd. Wieder einmal wurde mir bewusst, wie wertvoll internationale Vernetzung für alle Beteiligten sein kann.
Ich verlasse das Land deutlich aufgeklärter, aber auch umso verwirrter. Es scheint, als wäre Tiflis mitten in einem großen gesellschaftlichen Wandel. Man trifft auf stark verankerte konservative, patriarchale, queerfeindliche Werte, Traditionen und Haltungen und zugleich bietet Tiflis verschiedene öffentliche safe spaces und feministische Bewegungen, welche ganze Arbeit leisten. Bei Gesprächen mit Passanten äußerten sich einige sehr liberal und offen für Diversity, bei anderen hatte ich den Eindruck, dass LGBTQI+ und Frauenrechte noch Fremdwörter sein könnten (kann einem natürlich auch genauso in Deutschland passieren!).
Möglicherweise hat die Stadt sich noch nicht entschieden, in welche Richtung sie gehen möchte, es bleibt nur zu hoffen, dass ihr die Entscheidung nicht von der Regierung abgenommen wird.“
– Gabriel Calero Sequeira
„Das Interessanteste während der Reise waren natürlich die ganz neuen Eindrücke der georgischen Kultur. Ich habe so viel Neues darüber gelernt, wie die Menschen im Kaukasus leben, was sie essen, wie gewählt wird, wie die Politik funktioniert, wie die Soziale Arbeit funktioniert und wie der Großteil der Menschen wohl denkt. Verwirrt hat mich aber doch, wie verschiedene Ansichten zusammengehen. So unzählbar viele Menschen haben sich am Frauentag versammelt und sind gemeinsam auf die Straße gegangen, um sich gegen Russland und klar zu Europa zu positionieren. Und trotzdem gab es jeden Tag diese Mini-Demos gegen LGBTQI+ vor dem Kino (s. Foto). Hier verstehe ich nicht, wie so viele Menschen ja irgendwie westliche Werte und Normen einfordern, aber eben nicht alles akzeptieren wollen, was zu dieser westlichen Welt dazugehört.
Des Weiteren sind mir durch mein Interview mit einer Moskauer Nordkaukasus-Genderexpertin noch einmal die riesigen Unterschiede zwischen Nord- und Südkaukasus bewusst geworden. Vor meiner Reise habe ich das gesamte Gebiet mehr oder weniger über einen Kamm geschoren und nicht erwartet, dass die Situation in Tschetschenien noch so viel verschärfter ist, als in Georgien.“
– Wiebke Krüger
„Ich fand es super spannend, dass wir uns mit NGOs trafen und sie von der aktuellen Lage berichteten und ihrer sozialen Arbeit in unterschiedlichen Projekten, meist für LGBTQI+ Menschen. Ich finde den Austausch zwischen Sozialarbeitenden super wichtig, da wir viel voneinander lernen können. Ich bin sehr dankbar, dass diese Studienreise dies ermöglicht hat. Ich wurde inspiriert von dem Kampf und Eifer der NGOs, ausländische Spenden zu bekommen, um ihre Projekte weiterhin finanzieren zu können.“
–Clarissa Neugebauer Da Silva Sarmento
Im Sommersemester wird das Reallabor mit Onlineseminaren, einer weiteren gemeinsamen Veranstaltung an der Karlsuniversität und der FHP sowie einer Reise nach Aserbaidschan fortgesetzt.
Ein herzlicher Dank geht an das Auswärtige Amt, das dieses Reallabor, die Reisen wie auch die Verdolmetschung der Seminare finanziell ermöglicht hat sowie an den Projektpartner KommMit e.V.!